Gelebte Werte in starker Nachbarschaft

von Thomas Gröbly

Ich komme von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause. Mein Zuhause ist nicht nur die 35m2 kleine Wohnung, die ich mit meiner Freundin bewohne, sondern eine ganze Nachbarschaft mit Gemeinschaftsküche, Fitnessraum, Whirlpool, Kinderkrippe, Permakulturgarten, Biokostladen, Grosswaschküche, gemeinsamer Bibliothek, Nähatelier, Bäckerei, Werkstatt für Holz und Eisen und vielem mehr. Luxus pur. Das klappt nur, weil alle 500 Bewohnerinnen und Bewohner die Angebote gemeinsam nutzen und jede Person sich irgendwo engagiert. Da ursprünglich unsere Ernährung fast 30% des ökologischen Fussabdruckes ausmachte, kooperieren wir mit drei Bauernhöfen in der näheren Umgebung, die uns 90% aller Lebensmittel bringen. Wir sind vertraglich verknüpft, können mitarbeiten und unsere Kinder machen auch mal Ferien auf dem Bauernhof. Hier wohnen nicht nur Menschen mit geringem Einkommen, sondern Kinder, Frauen und Männer jeden Alters mit unterschiedlichen Berufen, Einkommen, Weltanschauungen und Lebensgewohnheiten. Alle ausser den Wenigverdienenden zahlen in einen Solidaritätsfonds ein. Damit wird Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen geschaffen. Unsere Siedlung hat zudem eine Komplementärwährung entwickelt. Ich habe ein sehr kleines Einkommen, mit der Komplementärwährung kann ich zusammen mit meiner Freundin gut und in Würde leben. Ich kann mit meinen handwerklichen Fähigkeiten, die auf dem Markt nicht mehr gefragt sind, hier wichtige Dienste leisten und so Caros, wie unsere Währung heisst, verdienen. Diese kann ich nur in unserer Nachbarschaft ausgeben. Das macht nichts, ist sogar sehr gut, denn so erhalten andere ein Einkommen und der Caritas Zürich Bezahlbar wohnen – drei wohnpolitische Visionen 21 Caros dient der Stärkung der Identität und lokalen Ökonomie sowie zur Integration aller Menschen. Mir macht es grosse Freude, denn nun kann ich mich mit meinen Fähigkeiten einbringen. Früher war ich oft erwerbslos und fühlte mich überflüssig. Das war entwürdigend. Heute bin ich reich und habe das Stigma der Armut überwunden. Viele sind nicht mehr auf den Solidaritätsfonds angewiesen, wodurch andere davon profitieren können.

Von den Fachleuten wird diese Wohnform als «multifunktionale Nachbarschaft» bezeichnet. Fast alles, was ich zum Leben brauche, bekomme ich vor Ort und habe sogar meinen Arbeitsplatz in einem Atelier unten im Parterre. Ich leite ein RepairCafé, wo wir alle möglichen Alltagsgegenstände reparieren. Kindern macht das übrigens grossen Spass. In den letzten 20 Jahren sind im Kanton Zürich etwa 1'000 solcher Nachbarschaften entstanden, teils neu gebaut, mehrheitlich wurden jedoch bestehende Siedlungen umstrukturiert.

Fachstelle als Stiftung

Dies wurde möglich, da Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts mit Mut die Vision von multifunktionalen Nachbarschaften gefördert haben. In einem politischgünstigen Moment wurde die Stiftung «nachbar» grosszügig mit 300 Millionen Franken ausgestattet.

Sie fördert bis heute genossenschaftliches Wohnen, indem sie überbautes Land im Baurecht abgibt und eine Grundfinanzierung ermöglicht. So bekommt eine Siedlung ca. 500'000 Schweizerfranken als zinsloses Darlehen. Für die Vergabe von Land und Geld sind strenge Richtlinien einzuhalten. Neben ökologischen und ökonomischen Auflagen müssen auch soziale Kriterien eingehalten werden. So ist die Gemeinschaftsbildung und Integration zentral, aber auch eine Stärkung der lokalen ökonomischen Kreisläufe, welche etwa durch eine Komplementärwährung gefördert werden können. Wo so eng zusammen gelebt und gearbeitet wird, gehört auch die Bildung und Ausbildung in der Gestaltung von partizipativen Prozessen und in gewaltfreier Kommunikation und Konfliktlösung dazu. Bei uns hat sich das bestens bewährt, und der individuelle Freiraum ist immer noch gegeben. Wir haben keine heile Welt. Wir haben gelernt zu streiten – und auch zu schlichten. Heute können wir das ziemlich gelassen nehmen.

Die Stiftung «nachbar» hat drei Ziele:

  1. Bewusstseinsbildung über multifunktionale Nachbarschaften und Gemeinschaftsbildung
  2. Erwerb von Boden und Vergabe im Baurecht für 99 Jahre an Wohnbaugenossenschaften
  3. Finanzielle Unterstützung von Wohnbaugenossenschaften im Sinne der multifunktionalen Nachbarschaften

Die Stiftung hat 100 Millionen in Boden und 200 Millionen und Wohnbaugenossenschaften investiert. Die Erträge aus dem Baurecht fliessen in den Kauf von neuen Grundstücken. Kein Kulturland soll verbaut werden, und so kauft die Stiftung nur Brachland oder bebaute Flächen. Die Beiträge an die Wohnbaugenossenschaften sind als zinslose Darlehen vergeben. Sie betragen ca. 5% der gesamten Bausumme und dienen der Vergünstigung des Wohnraumes. Da die Amortisation sehr gross ist, konnten diese 300 Millionen regelrecht als Katalysator wirken. Da die Stiftung keine «Ghettos» mit wenig verdienenden Menschen will, strebt man eine hohe soziale Durchmischung an. Der Solidaritätsfonds macht nicht nur den Wohnraum günstiger,sondern fördert auch den sozialen Zusammenhalt. Und, die Armut hat rapide abgenommen

Geschichte

Am Anfang des 21. Jahrhunderts bestanden grosse Herausforderungen. Der ökologische Fussabdruck war zu gross, die Zersiedelung und der Verkehr zwischen den monofunktionalen Orten fürs Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und die Freizeit nahmen zu viel Kulturland in Anspruch. Dabei waren die Menschen nicht einmal glücklich, sondern gestresst, unter Druck und oft einsam und fühlten sich ohnmächtig. Dank der mutigen Initiative im Kanton Zürich hat sich die Situation verbessert. Viel Land und auch Wohnraum wurde der Spekulation entzogen, und das hat auch ausserhalb von Genossenschaften die Spirale der steigenden Liegenschafts- und Mietpreise gebremst.

Fazit

Mein Fazit ist durchwegs positiv, auch wenn es natürlich emotional oft sehr anspruchsvoll ist. Meine Lebensqualität hat sich verbessert, denn ich kann bei allem, Caritas Zürich Bezahlbar wohnen – drei wohnpolitische Visionen was mein Leben betrifft, viel stärker mitbestimmen. Ich fühle mich sicher, denn ich habe grosses Vertrauen in unser verbindliches, soziales Netz. Wir müssen nicht alles gemeinsam machen. Ich kann mich zurückziehen und weiss, dass meine Privatsphäre gewahrt wird. Ökonomisch geht es mir und allen in der Nachbarschaft gut, denn wir leben Solidarität und haben dank Komplementärwährung einen robusten lokalen Wirtschaftskreislauf aufgebaut. Was mich am meisten fasziniert ist die Wertebildung. Wurde früher oft über den Wertezerfall geklagt, so sind bei uns Zivilcourage, Solidarität, Kooperation, Loyalität und Verantwortung selbstverständlich. Heute weiss ich, dass man solche Werte nicht lehren kann, sondern sie entstehen im gelebten Alltag in verbindlichen Beziehungen. Ich habe Freude, Teil dieser Nachbarschaft zu sein und vertraue darauf, dass sie mich trägt.

Im Rahmen des Armutsforum 2014 hat die Caritas Zürich nach Visionen zu «bezahlbar Wohnen» gesucht. Dieser Text wurde in der Caritas-Publikation publiziert.

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