Die kreative Zerstörung des Kapitalismus

von Hans E. Widmer

Es scheint, dass wir in der Klemme sitzen. Man sagt uns: entweder ihr tut alles für das Wachstum, oder wir bestrafen euch mit der Austerität. Die Logik ist kristallklar: wenn eine Wirtschaft nicht wächst, dann schrumpft sie, und wenn sie schrumpft, dann schrumpfen eben auch die Steuererträge, und wir können uns Spitäler, Schulen und soziale Auffangnetze nicht mehr leisten. Die soziale Ungleichheit nimmt zu, soziale Spannungen ebenfalls.

Das Wachstum wiederum können wir uns aus ökologischen Gründen nicht mehr leisten. Wir verbrauchen inzwischen fast zwei Planeten, das Klima droht zu klippen, Ressourcen werden verschwendet. Die Ärmsten leiden am meisten unter den ökologischen Folgen. Das Motto hiesse also: Suffizienz, Décroissance!

Im Gefolge der Griechenlandkrise hat sich eine internationale Front von meist keynesianischen Austeritätskritikern gebildet: Piketty, Krugmann, Galbraith, Stiglitz, Sachs, Seibt, oder Varoufakis. Sie sagen: der Staat soll und kann Geld ausgeben um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Dabei verweisen sie oft auf zwei Erfolgsgeschichten: die «goldenen dreissig Jahre» (1945-75), als Löhne und Profite im gleichen Tempo wuchsen und zugleich die sozialen Sicherungsnetze aufgebaut wurden. Das zweite Beispiel sind die skandinavischen Staaten, die heute noch die höchsten Staatsquoten, immer noch gute soziale Absicherungen und weniger Ungleichheit haben. «Everywhere should be like in Denmark», wie die Amerikaner (und wohl auch Syrer) neidisch sagen. Dänemark führt denn auch seit Jahren die internationale Glücksstatistik an. Mehr Staat+mehr Demokratie=mehr Glück; die Sache scheint klar zu sein.

Auf politischer Ebene bildet sich diese Argumentation in Bewegungen und Parteien wie Podemos, Syriza, Die Linke usw. ab. Auf dem Weg in die «goldenen dreissig Jahre» befinden sich auch der demokratische Präsidenschaftskandidat Bernie Sanders und der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Dass diese alten Knacker gerade die Jugend begeistern («Feel the Bern!»), hat nicht so sehr mit ihrem wirren, weissen Haar zu tun, als mit der Tatsache, dass sie eine biographische Klammer zu jener Zeit, die sie selbst in ihrer Jugend noch erlebt haben, bilden. Sie verkörpern ein trotziges (und oft auch trotzkistisches) «Back to the future», das der von Arbeitslosigkeit, Prekariat, Perspektivlosigkeit und Armut geplagten jüngeren Generation nicht nur in Europas Süden wie das neue Paradies erscheinen muss.

Ein normaler, korruptionsfreier Kapitalismus mit genügend interessanten und sicheren Jobs, abbezahlten Häuschen, funktionierenden öffentlichen Dienstleistungen und mit einer Rundum-Sozialabsicherung sollte doch heute, nach all den Jahren des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts möglich sein. Da die Revolution fürs erste vertagt ist, verlangt man doch gar nicht mehr.

Das Geld ist ja da. Stiglitz spricht von einer «Savings Glut» (einer Ersparnisschwemme; Stiglitz, Joseph, The Great Divide, 2015). Das Geld liegt herum, während wir zugleich in einer sadomasochistischen Schuldenfalle sitzen. Warum machen wir also nicht einen globalen Haircut, oder besser eine Totalrasur, und starten frischen Mutes in die nächsten dreissig, dreihundert, goldenen Jahre? Es ist logisch, es war schon einmal da, es ist machbar. Endlich das grosse Aufatmen! Warum geht es nicht?

Die Gläubiger wollen nicht, die Schuldner können nicht. Das Wachstum ist fast tot. Nichts geht mehr. Es führt kein Weg zurück ins Paradies.

Die goldenen dreissig Jahre (1945 – 1970) waren in der Geschichte des Kapitalismus eine Anomalie, die mit den revolutionären Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg zu tun hatte (Alperovitz, Gar, What Then Must We Do? The Next American Revolution, 2013). In einer seltsamen Anwandlung von Resignation liess sich damals die amerikanische Arbeiterklasse die Revolution abkaufen (Steve Fraser, The Age of Aquiescence, 2015). Diese Jahre waren zudem geprägt von Kriegen, Krisen und Verfolgungen (z.B. Antikommunismus). Es waren nicht Keynes’ Rezepte, die aus der Depression führten, sondern ein Weltkrieg, der 50 Millionen Tote forderte. Sie waren so unerträglich, dass sie von grossen Streikbewegungen geprägt waren. («Was? Die hatten damals alle Jobs und streikten?» fragt sich mancher heute.)

Die Utopie, dass es einen normalen Kapitalismus geben könnte, ist die gefährlichste, die es je gegeben hat. Statt den Kapitalismus (oder «die Wirtschaft») als fast natürliche Gegebenheit anzusehen, die man nur noch etwas verbessern müsste, bis sie normal funktioniert, sollten wir ihn als Ausnahmezustand verstehen, der sich zeitweise verfestigt hat. Der Kapitalismus, so wie wir ihn kennen, war eine lokal beschränkte Improvisation des 18. Jahrhunderts, als in England eine Konjunktur entstand, die kolonial angehäuftes Handelskapital mit Manufakturbetrieben zusammenbrachte.

Nun, den normalen Kapitalismus wird es nur darum schon nicht mehr geben, weil die Verwertungsmaschinerie des Kapitalismus schon eine Weile im Leerlauf dreht und durch Finanzmanipulationen nur noch simuliert wird. Stiglitz spricht angesichts der Unmöglichkeit noch profitable Investitionen zu tätigen, von Ersatzkapitalismus. Rifkin meint (Rifkin 2014, S.1): «Die kapitalistische Ära geht zu Ende... nicht sofort, aber unweigerlich. Ein neues ökonomisches Paradigma – die kollaborativen Commons – entsteht danach und wird unsere Lebensweise verändern.» Wir nähern uns dem Punkt, wo durch Automatisierung Arbeiter und Arbeit gleichermassen verschwinden. Noch auf Jobs zu bauen, heisst auf Treibsand bauen.

Die Ära der Commons finanzieren

Eigentlich müssten wir uns nun darauf konzentrieren gesellschaftliche Strukturen aufzubauen, die funktionieren, wenn das instabile Gebilde zusammenkracht. Ist es nicht seltsam, dass die neokeynesianischen Diskussionen und die Diskussionen über die Commos parallel und unverbunden ablaufen? Das hat wohl damit zu tun, dass das eine Verfahren quantitativ, das zweite aber qualitativ bestimmt ist. Während die einen fragen, woher soll das Geld kommen? fragen die andern: wie sollen wir leben?

Wir können uns eine globale Gesellschaft, die auf einer demokratisch verwalteten Gemeinwirtschaft beruht, sehr gut vorstellen. Die Commons gab es auch schon einmal, es gibt sie noch heute, sie entstehen wieder in Ansätzen. Modelle, Rezepte und Projekte gibt es in Hülle und Fülle (Helfrich, Silke (ed.), Commons, 2012). Die Ära der Commons beginnt quasi um die nächste Ecke. Wir sind schon fast da, wir klären momentan die letzten Details. Der entscheidende Punkt dabei scheint mir, dass wir uns global auf klar definierte Institutionen der Commons einigen können. Die bestehenden Nationen sind dafür in der Regel nicht geeignet.

Während Strukturen und Institutionen im Prinzip gratis sind, erfordern sie doch eine völlig neue materielle Infrastruktur. Wie es schon Ivan Illich (Illich, Ivan, Tools for Conviviality, 1973) aufzeigte, hat der Kapitalismus nicht nur die Konvivialität zerstört, sondern auch unbrauchbare «Werkzeuge» geschaffen. Die Transformation zu einer Commons-Gesellschaft braucht also Investitionen, und zwar jetzt, mit den Mitteln, die heute vorhanden sind, also Geld.

An diesem Punkt können wir einen Bogen schlagen zu den empörten Austeritätsgegnern, den verzweifelten Investoren und den Commons-Pionieren: wir stecken noch einmal Geld in die Wirtschaft, aber nicht um sie in Gang zu halten, sondern um sie zu beenden (Eigentlich war das das Ziel von Ökonomen wie Keynes und Schumpeter: investieren um das «Wirtschaftsproblem» los zu werden). Am besten kann man sich das nach dem Modell von Tim Jackson (siehe auch: Das Buch NUR, Neustart Schweiz 2015) vorstellen. Man nehme ein normales BIP: E = C + G + I + X. (C = Konsum, G = Staatsausgaben, I = Investitionen, X = Exporte.), dann reduziere man den Konsum (= aka Sparen) und erhöhe damit die Investitionen in die neuen Commonsstrukturen, weltweit. Da wir an die «Savings Glut» nicht herankommen, finanzieren wir das eben selbst. Die 1% (Gemäss Krugman: 0,1 %; endlose Proteste nützen da gar nichts) mögen die Hälfte der Assets besitzen, wir haben immer noch die andere Hälfte (zum Beispiel unsere Pensionskassenvermögen).

Die Schweizer Arbeitnehmer verdienten 2012 262,313 Milliarden Franken. Wenn man davon 3% spart, hat man 7,869 Milliarden Franken für den Umbau unserer Nachbarschaften, Quartiere, Städte, Industrien und öffentlichen Infrastrukuren pro Jahr. Mit diesem Geld äufne man einen Commons-Fonds, der ähnlich wie die AHV funktioniert (der Name passt gut: schliesslich sind wir alle einmal die «Hinterbliebenen» des Kapitalismus). Wir können dieses Eigenkapital auch als Leverage brauchen, so lange das Finanzsystem noch da ist. Dann hätten wir 80 Milliarden. Es wird also nicht einfach Geld in die Wirtschaft gepumpt, sondern es werden Lebensgrundlagen geschaffen, die später auch ohne Geld funktionieren können (Oder wir gründen ein paar Hedge Funds, siehe: Scott, Brett, The Heretic’s Guide to Global Finance, 2014. Dann müssten wir uns jedoch dunkle Anzüge kaufen). Die Nachbarschaften werden so ausgerüstet, dass sie zusammen mit Bauern der Regionen die Ernährung sichern können, die Quartiere bekommen kooperative Betriebe für Verleih, Reparatur und Wiederverwertung, die Industrie produziert brauchbare konviviale Tools usw. Der individuelle Konsum wird einfach durch kollektive Genüsse ersetzt (Jackson redet von einem «hedonistischen Ausstieg aus dem stählernen Gehäuse des Konsums»).

Statt endlich die 1% zu enteignen, sollen wir jetzt sogar noch sparen? Genau, so absurd ist die Lage. Jede Genossenschaft macht heute auch nichts anderes. Wir sparen für unsere Anteilscheine und schaffen damit einen Commons, günstigen Wohnraum, für zukünftige Generationen. Nochmals 3% Lohnabzug lassen sich leicht verkraften (kann man progressiv gestalten). Das wichtigste ist aber: wir verwalten diesen Fonds selbst, wir bestimmen, in was investiert wird, wir schliessen den Fonds, wenn der Job getan ist. Wenn man weiss, wofür man spart, und was für Vorteile es bringt, dann ist man ja gerne bereit. Für die Wirtschaft ist das ein zielgerichtetes Impulsprogramm, finanzwirtschaftlich ist es neutral (keine neuen Staatsschulden), politisch unverdächtig. Alle profitieren: Arbeitnehmer, Mieter, Bauern, Unternehmen, der Staat.

So hätten wir weder asoziale Austerität noch umweltzerstörerisches Wachstum, sondern ein besseres Leben für alle auf einer neuen Basis.

Die politische Umsetzung erfordert aber noch ein bisschen Arbeit.

Bücher
  • Nachbarschaften entwickeln!, Neustart Schweiz, 2013
  • «The Power of Neighborhood» und die Commons (deutsch), Neustart Schweiz, 2014
  • Helfrich, Silke (ed.), Commons, 2012
  • Gibson-Graham, J.K., Take Back the Economy, 2013
  • P.M., Computer und Kartoffeln, 2013
  • Jackson, Tim, Wohlstand ohne Wachstum, 2011
  • Das Buch NUR, Neustart Schweiz, 2015
  • www.o500.org
  • Rifkin, Jeremy, The Zero Marginal Cost Society, 2014
  • Steve Fraser, The Age of Aquiescence, 2015
  • Stiglitz, Joseph, The Great Divide, 2015
  • Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. 1975 (1973)

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